„Gott will nicht die Liebe von Sklaven. Er will die Liebe von Freien!? „

Der Theologe und Priester Paul M. Zulehner, einer der bekanntesten Religionssoziologen Europas, war am 2. Oktober zu Gast in der Pfarrkirche St. Johann Evangelist am Keplerplatz, wo er sein neues Buch „Europa beseelen“ vorstellte. 

Er erzählte aber zunächst einmal von seiner Arbeit für den Rat der Europäischen Bischofskonferenzen, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vor der Herausforderung stand, Osteuropas Kirche in die neue Freiheit zu begleiten: Welchen Beitrag konnte die katholische Kirche zur Entwicklung des geeinten Europas leisten? Zulehner beleuchtete die Rolle des Evangeliums „im Ringen um Freiheit und Gerechtigkeit“ und war damit mittendrin in seinem Thema. 
Es war auch eine kleine Nachhilfestunde in (Zeit-)Geschichte, mit einigen Abstechern in die Gegenwart. So meinte der Theologe etwa, dass Europa auch heute wieder eine starke Arbeiterbewegung bräuchte.
Und er führte auch Beispiele von Politikern an, die aus seiner Sicht „gestandene Christen“ sind. Er betonte natürlich auch die wichtige Rolle der Kirche in der Gesellschaft. 
Und noch eine Botschaft hatte er für die anwesenden Wiener: „Keine Angst vor Strukturreformen!“ 

Aber zurück zur Geschichte: Da erläuterte Zulehner die Bedeutung der Jahre 1689 (Bill of Rights), 1789 (Französische Revolution), 1848  (Revolution in Österreich), 1945 (Ende des Faschismus), 1968 (Studentenrevolution) und 1989 (Zusammenbruch des Kommunismus). Er hangelte sich entlang dieser Daten durch die jüngere (Kirchen-)Geschichte, erläuterte die damit einhergehenden Entwicklungen und beleuchtete unter anderem, was von der christlich-sozialen Bewegung geblieben ist – und er stellte fest, dass ab der Mitte der 1990er Jahre innerhalb der (vor allem männlichen) Jugend eine neue „Freiheitsflucht“ stattfinde: „Die Leute flüchten vor der Last der ihnen auferlegten Freiheit.“ Mit allen politischen Konsequenzen von Donald Trump bis HC Strache. Dabei kritisierte er auch den Klerikalismus, den auch der Papst bekrittelt: „Wir sind zu pfarrerhörig.“ 
Diese erneut zunehmende allgemeine Obrigkeitshörigkeit versuchte er auch mit dem Risiko zu erklären, das mit der Freiheit einhergeht. Und mit einer Generation von Erben, die derzeit aufwächst, der alles in den Schoß fällt, weshalb sie um nichts kämpfen muss. Freilich spielt auch die neue Unsicherheit in der Arbeitswelt dabei eine Rolle. Zulehner, der auch der Kirche manche Fehler vorhielt („Sie hinkt der gesellschaftlichen Entwicklung um 200 Jahre hinterher“), betonte: „Gott will nicht die Liebe von Sklaven. Er will die Liebe von Freien!“ Der Glaube müsse „vernünftig“ sein. Und die Aufgabe der Christen sei nicht, in den Himmel zu kommen, sondern dafür zu sorgen, dass der Himmel auf die Erde kommt. 

Eine Stunde lang lauschten gut drei Dutzend Zuhörer seinen Ausführungen (in denen er en passant auch gleich die Negativzinspolitik erklärte), die er – unterstützt durch anschauliche Powerpoint-Folien – völlig frei vortrug. Dabei nahm er sich kein Blatt vor den Mund und bezog zu aktuellen Themen klar Stellung. Der Mann weiß, wie und wo er sein Publikum abholen muss. Dieses war im Anschluss dran: Zulehner stellte sich eine halbe Stunde lang verschiedenen Fragen aus den Kirchenbänken. Diese reichten von seiner Einschätzung des Glaubens in unserer Gesellschaft („Wir haben viele Katholiken im Land, aber nicht alle, sind Christen“) über den Zölibat, Frauenpriestertum und die Notwendigkeit, große Kirchengebäude für kleiner werdende Pfarrgemeinden zu erhalten bis hin zur Bedeutung der Wandlung und der Fußwaschung für Gottesdienstbesucher. 
Mathias Ziegler

Paul M. Zulehner: Europa beseelen
Patmos Verlag; 176 Seiten; 16 Euro

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www.zulehner.org/site/shop/neuerscheinungen